Begegnungs- und Gemeindereise nach Indien, dem „Subkontinent der Religionen“

Alle Reisen haben eine heimliche Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt”, sagt der österreichisch-israelische Regionsphilosoph und Schriftsteller Martin Buber.

Ob Vorahnung oder Bestimmung – die Spannung war auf jeden Fall enorm, als sich unsere Gruppe von rund 20 Personen unter der Leitung von Pfarrer Wildfang an einem sonnigen Oktobermorgen im Terminal 3 in Frankfurt Richtung Dubai und Hyderabad eincheckte. Nach neunstündigem Flug über Dubai fanden wir uns dann am Abend des gleichen Tages in den Gästezimmern des seit 1930 bestehenden Henry Martyn Instituts im indischen Hyderabad wieder. Dass draußen vor den scheibenlosen, nur mit Mückengittern geschützten Fenster die Böller und Raketen aus Anlass des Diwali-Festes explodierten, verzögerte vielleicht bei einigen das Einschlafen, aber fix und fertig sanken die meisten doch schnell in den Schlaf.

Der erste Tag in Indien begann mit Frühstück, Begrüßung durch den Rektor Dr. Packiam T. Samuel und einer von ihm geleiteten Andacht in der wunderschönen Gebetshalle des Instituts – und danach rollte das Studienprogramm in Hyderabad an. Vorlesungen und Referate über die Religionen, über Diakonie und Konflikt­hantie­rung lösten sich mit Tempel- und Studien­besuchen ab. Höhepunkt des ersten Tages war doch auch der Besuch in der Aman Shanti-Schule, die Institut und Gemeinde in Arnoldshain unterstützen. Die Freude der Kinder, der Lehrerinnen und der Schulleiterin über die mitgebrachten Mal­kästen, Stifte, Kugelschreiber und andere Geschenke war enorm!  Die Aman Shanti-Schule unterrichtet nicht nur Kinder, sondern auch ihre Mütter, die dort die Arbeit mit Näh-und Schreib­maschine und das Malen von Henna-Tattoos, die für feierliche Anlässe nach­gefragt sind, erlernen. Patienten der ange­schlossenen, kleinen Klinik bezahlen 5 Rupien für die Sprechstunde. Das hinduistsche Diwali-(Lichter) Fest feierte die Gruppe unter der Leitung des Brahmanen Kuldeep Kumar Tiwari in einem Tempel und zuhause bei einem Gönner des Instituts, der großzügig alle 20 BesucherInnen zu sich nach Hause einlud, wo eine weitere Andacht – Puja – im Kreise der Familie gefeiert wurde. Bibliothekar Mohd. Tajuddin des HMI lud die Gruppe zu einem Mittagessen zu sich nach Hause ein, der Sohn der Familie begrüßte uns mit einer gesungenen Sure aus dem Koran.

Die Tage in Hyderabad gingen viel zu schnell zu Ende – weiter ging es mit dem Flieger in die Palaststadt Jaipur, wo uns auch unser indischer Reiseleiter Rajesh in Empfang nahm. Der Elefantenritt zu der prächtigen Bergfestung von Jaipur zählte ganz sicher zu den Höhe­punkten der Studienreise, der Stadtpalast von Jaipur, in dem der heute 11jährige Maharadscha immer noch wohnt, wenn er nicht in Eton zur Schule geht, ebenso. Reiseleiter Rajesh Mendiratta, selbst Sohn der Stadt Jaipur, trug – wie auch auf der ganzen Reise – mit einer Fülle persönlicher Geschichten und Erlebnisse ganz besonders dazu bei, den Besuchern aus Deutschland Indien näher zu bringen, so etwa mit Berichten über die eigenen Familie, die von den Eltern arrangierte glückliche Heirat, Familienplanung, Ausbildung der Kinder, die von der Oma „gepredigte“ und gelebte Toleranz der Religionen.

Aus dem Bundes­land Rajasthan führte unsere Reise weiter nach Agra mit dem weltberühmten Kuppelbau des Taj Mahal – kein Tempel, sondern das Grabmal einer Königin, erbaut von ihrem Ehemann, der auch dort beigesetzt ist. In Mathura besuchten wir den Ort, wo Krishna geboren sein soll – in einer Gefängniszelle, über der später die Moslems eine Moschee errichteten. In Agra bestieg die Gruppe abends den Schnellzug Marudhar Express nach Varansi – eine Liegewagenfahrt, die keiner der BesucherInnen aus Deutschland je vergessen wird: 120 Passagiere drängten sich 14 Stunden lang auf den harten Pritschen des 1.Klasse- Liegewagens, der keine Abteile hatte und bereits beim Einsteigen völlig überfüllt war und mit offenen Türen durch die Nacht rumpelte und vergeblich versuchte, die durch Kühe auf den Schienen bedingte Verspätung einzuholen.

Angekommen in Varanasi ging es zum Fluss Ganges, der in Indien als Göttin verehrt wird. Die Stadt Varanasi selbst entspricht von ihrer Bedeutung her dem Mekka der Muslime, denn durch die Verbrennung der Toten und dem Verstreuen ihrer Asche im Fluss soll der ewige Kreislauf von Tod und Wiedergeburt durchbrochen werden. Auf einem offenen Holzboot erlebten wir die flackernden Feuer, wo auf den Treppen zum Ganges die Toten von den Männer ihrer Familie verbrannt werden – schweigend und von dem Anblick überwältigt kehrten wir an diesem Abend ins Hotel zurück. Die Nachtruhe war dennoch kurz: im Morgengrauen fuhren wir erneut an den Ganges, um mitzuerleben, wie sich auf den Badetreppen Zehntausende von Gläubigen versammelten, um im Augenblick des Sonnenaufgangs das rituelle Bad im heiligen Ganges zu vollziehen. Am darauf folgenden Morgen nahmen sogar die Mutigsten unserer Gruppe am Sandstrand des Ganges zusammen mit Pfarrer Wildfang und dem Brahmanen Kuldeep das erlösende Bad im heiligen Fluss.

Das umfassende Besuchsprogramm in Indien lässt sich kaum an dieser Stelle angemessen beschreiben: Be­suche in Tempeln, Palast­an­la­gen, in einem Astronomie- und Astrolo­gie­park mit der weltweit größten Sonnen­uhr, bei Künstlern und Hand­werkern, in der wohltätigen Küche des Sikh-Tempels, Fahrradrikscha- und Tuk-Tuk-Fahrten, unzählige Museen und Ausgrabungsstätten, die Fütterung der heiligen Kühe am Tempel, Teppich- und Seiden­herstellung in einer Kooperative, der Besuch eines Vogel-Nationalparks, wo der frühere deutsche Kaiser Wilhelm als Kronprinz Hunderte von Enten erlegte – und vor allem die Begegnungen mit vielen, vielen gastfreundlichen Menschen, die gern aus ihrem Leben berichteten und erzählten, so wie die Bäuerin, die auf einer 1000 km langen Pilgerwanderung den Besuchern Rede und Antwort stand – immer empathisch und einfühlend übersetzt von unserem Reiseleiter Rajesh, unzählige Schulkinder, die sich gern mit den Gästen aus Deutschland fotografieren ließen ... und.

Dazwischen immer Augenblicke der Besinnung und der Reflexion: bei den Andachten im HMI und im rollenden Bus, geleitet von Pfarrer Wildfang und dem Theologiestudenten Lukas Hille, den Poojas des Brahmanen Kuldeep oder beim Freitagsgebet in der großen Moschee von Hyderabad. Armut und Elend, Slums, Bettler, Leprakranke und Verstümmelte – auch das soll nicht verschwiegen werden und machte tiefen Eindruck auf die Gruppe – Tausende von Eindrücken und Begegnungen, die so kurz nach der Reise gar nicht verarbeitet sind, sich kaum verarbeiten lassen. Vieles lässt sich tun, vielen kann geholfen werden, und vielen hat sicher auch unser Besuch – auch gerade mit allen Mitbringseln und Geschenken für die Aman Shanti-Schule geholfen. Zur Erinnerung: 5 Rupien kostet der Besuch der Klinik die Patienten, 5 Cent.... Ist das die „heimliche Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt“, von der Martin Buber spricht? Reiseleiter Rajesh brachte es auf den Punkt: jeder Besucher und jede Besucherin Indiens ernährt 100 Inder. Davon ahnten wir vorher nichts, dank dieser Reise nach Indien ist dies für alle zur Gewissheit geworden. Am Gepäckband im Terminal 3 waren sich daher auch alle einig:

„Auf Wiedersehen, Indien!“

Text und Fotos: Werner Wildfang